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Die Geschichte hielt den Atem an, aber Alltag Ost und Alltag West liefen weiter

20 Jahre Fall der Berliner Mauer und die Anthologie „Die Nacht, in der die Mauer fiel“

Deckert, Renatus (Hrsg.). Die Nacht, in der die Mauer fiel. Frankfurt: Suhrkamp, 2009.

Heute ist es auf den Tag genau 20 Jahre her, dass Günther Schabowski am Abend des 9. November 1989 auf der legendären Pressekonferenz einen zerknautschten Zettel aus der Jackettasche zog und stockend vorlas: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. […] Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Westberlin erfolgen.“ Schon kurze Zeit später trafen die ersten DDR-Bürger an den Grenzübergängen nach Westberlin ein, die Grenzer gaben dem Druck der Massen nach, und die Mauer ging auf. Nach 28 Jahren war die gewaltsame Abtrennung der DDR von der Bundesrepublik aufgehoben, und die Menschen konnten frei in den jeweils anderen Teil reisen. Dieses damals für alle Beteiligten überraschende, spektakuläre und zugleich symbolische Ereignis ist zum Ausgangspunkt für die Frage geworden: Wie haben Menschen in Deutschland Ost und Deutschland West diesen 9. November 1989 erlebt? Wie hat sich ihr Leben dadurch mittelbar und auch unmittelbar verändert? Wie stark ist der historische Moment im Vergleich zum erlebten Alltag des Einzelnen?

Die Anthologie, die Renatus Deckert aus Anlass des 20. Jahrestages des Mauerfalls herausgegeben hat, ist ein Versuch, das wohl markanteste Ereignis in der politischen Wende der Jahre 1989/90 in literarischen Texten einzufangen. Schriftsteller aus Deutschland Ost und Deutschland West zeigen das Ereignis „Mauerfall“ in sehr persönlichen Episoden. Es fällt auf, dass die angesprochenen Autoren fast keine fiktionalen Texte verfasst, sondern ausschließlich biografische Begebenheiten zum Gegenstand ihrer Texte gemacht haben. So darf man wohl annehmen, dass die Nacht, in der die Mauer fiel ein Ereignis ist, zu dem sich fast alle persönlich ins Verhältnis setzen, etwas Autobiografisches mitteilen möchten. Was lässt sich nun aus den Texten an der Befindlichkeit der deutschen Gesellschaft ablesen?

Die Texte lassen sich in drei recht klar abzugrenzende Gruppen unterteilen: Die erste Gruppe versammelt alle Texte, die eine ausschließlich westdeutsche Sicht auf die Ereignisse des 9. November beschreiben, die zweite Gruppe zeigt in ihren Texten eine dezidiert ostdeutsche Erfahrungswelt, und zur dritten Gruppe gehören all die Texte, die auf Erfahrungen im West-Ost-Austausch zurückgreifen, die weit in die Vorwendezeit zurückreichen.

Zu den Texten, die uns westdeutsche Erfahrungen präsentieren, gehören die Texte von Treichel, Draesner, Peltzer, Menasse, Moorshäuser und Lentz. Friedrich Christian Delius beschreibt in seiner Episode einen Anruf aus Amerika am Abend des 9. November,  der seinen Italienisch-Unterricht unterbricht und ihn über den Mauerfall informieren will. Der Protagonist verfolgt diese Information nicht weiter und nimmt erst später aus den Fernsehnachrichten zur Kenntnis, dass die Mauer tatsächlich gefallen ist. Ulrich Treichel versucht in seinem Text anhand von Kalendereinträgen das Jahr 1989 zu rekonstruieren und schreibt. „Ich glaube mich zu erinnern, in der Tagesschau die Nachricht von der Maueröffnung gesehen zu haben. Ich bin aber weder nach der Tagesschau noch nach den Spätnachrichten mit den Bildern vom Grenzübergang Bornholmer Straße von Friedenau aus zur Mauer gefahren, sondern habe bis spät in die Nacht hinein an meinem Schreibtisch gesessen. Denn am 10. November hatte ich laut Kalendereintrag schon wieder den Grundkurs Benn, der Kurs war offenbar vierstündig. Mittwochs und freitags, jeweils von 16 bis 18 Uhr. Der Kurs am 10. November hätte aufgrund eines welthistorischen Ereignisses ja ausfallen können. Aber er war  nicht ausgefallen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, mit den Studenten über die Maueröffnung gesprochen zu haben.“ (S. 58). Michael Lentz beschreibt in seinem Text „Hauptsache, vorne war es hell“ eine Situation vor dem Fernseher und den Versuch, sich in das Thema „Fall des Eisernen Vorhangs“, das ihn bislang nicht im mindesten betroffen hat, hineinzudenken. Dabei kommt er zu folgendem Ergebnis: „Die Lethargie war schön beschämend. Auf dem Sechzigerjahrestuhl saß ein Westarsch, der nicht mal was mit Westberlin zu tun hatte, dessen innerliche Verkümmerung augenscheinlich war – und das war ich selbst. […] Nach Berlin fahren, plötzlich also nicht mehr nach Westberlin fahren, nicht mehr nach Ostberlin fahren, sondern ohne Umschweife nach Berlin. Ohne mich! Es war mir scheißegal, was da lief. Das plan- und zukunftslose Durcheinander in Westberlin ging mir genauso auf die Nerven wie das feiertägliche Paradieren vor den Hohlkörpern der DDR, denen die Sterbehilfe versagt blieb. Mir san mir – und ich war nicht dabei.“ (S. 199). Diese Texte zeigen, dass das historische Ereignis medial wohl angekommen ist und auch aufgenommen wurde, aber in diesen Texten der westdeutschen Autoren keinerlei Verbindung zur eigenen Lebenswelt hatte oder sie in irgendeiner Weise beeinflusste.

Die zweite Gruppe der Texte zeigt eine ausschließlich vom ostdeutschen Erfahrungshintergrund geprägte Sichtweise. Die markentesten Beispiele sind hier die Texte von Annette Gröschner und Kathrin Schmidt. Gröschner beschreibt in ihrem Text „Die Rache“ die Bewegungen zum Brandenburger Tor von Ostseite aus am 9. November, sie beschreibt, wie die Menschen auf den Durchlass warteten, dann nach Kreuzberg schauten, hineinliefen. Kathrin Schmidt lässt in „Brief zur Nacht“ die Geschichte der späten DDR Revue passieren, in der sie wie viele versuchte, politisch aktiv zu sein, neue Wege zu finden, ohne sich dem System anzudienen, und dabei zwischen Konformismus und Reformwillen zerrieben wurde. Angekommen in der Wendezeit, beschreibt Schmidt das einzigartige Gefühl inmitten der politischen Veränderungen im Herbst 1989, als sich eine demokratische Bewegung in Gang gesetzt hatte, die jede Art von Erneuerung möglich erscheinen ließ. Das Gefühl beschreibt sie wie folgt: „Am letzten Samstag vor dem Mauerfall hatte es die große Kundgebung auf dem Alexanderplatz gegeben. Was wir damals spürten, war wohl der auf den historischen Augenblick beschränkte Lufthauch einer Chance, den Laden zu übernehmen, auszumisten und uns mit uns selbst ins Benehmen zu setzen. Dieser Lufthauch reichte aus, uns zu berauschen. Wir schafften unendlich viel damals, es gab nichts, was nicht ging, alles war möglich.“ (S. 145).

Was sie beschreibt, ist das ursprünglich Gefühl von Freiheit, von neuen Möglichkeiten, was sich nur jemand vorstellen konnte, der die Enge des Davor kannte. Und dieses Gefühl, Anteil zu haben an dem historischen Augenblick, in dem sich plötzlich eine umfassende Veränderungsmöglichkeit auftut, bleibt das Trennende zwischen den Beteiligten aus Deutschland Ost und Deutschland West.

Reinhard Jirgl kontrastiert in seinem Beitrag die Erfahrungsebene mit einer Reflexionsebene über Mauerbau und Mauerzeit. Damit gibt er eine Verbindung zwischen der individuellen und gesellschaftlichen Dimension der Phänomene Mauer und Mauerfall.

Volker Braun beteiligt sich mit einem Text, der im Gegensatz zu den meisten anderen versucht, die Position des objektiven Beobachters einzunehmen und keine emotionale Komponente zu zeigen: „schabowski verliest auf einer pressekonferenz mit ungläubigem glotzen den zettel, der ihm gerecht wird: die grenze sei offen – für die ausreiser, war gemeint, ab sofort; und die tausende stürzen an die übergänge und unterrichten die grenzpolizisten, die verlegen den tatsachen platz machen. Und schon tappen die ersten, mit einem vorsichtigen schritt, auf den fremden boden, so wie der kaiser hu hai mit nackter sohle die erde berührt. Das volk nimmt den unfreiwilligen euelenspiegel beim wort und zieht seine schuhe an und zieht binnen stunden über den kuhdamm.“ (S. 133f.)

Die dritte Gruppe der Texte zeichnet sich durch die bereits lange vor dem Mauerfall vorhandene Austauscherfahrung zwischen Ost und West aus.  Zu ihnen gehören die Texte von Katja Lange-Müller, Jürgen Becker, Marcel Beyer, Detlef Kuhlbrodt, Richard Wagner, Emine Sevgi Özdamar und Thomas Lehr. In diesen Texten werden Erfahrungen beschrieben, die den 9. November in einer Reihe sehen mit Ereignissen, die sie im Aufeinandertreffen von Ost und West bereits vor der Maueröffnung erlebt haben.

Emine Sevgi Özdamar hat noch zu Zeiten der real existierenden DDR an der Volksbühne in Ostberlin gearbeitet und im Westen der Stadt gewohnt. Für sie entstand ein Gefühl der zwei Kontinente, bevor die Mauer sich öffnete: „In den zwei Jahren, die ich an der Volksbühne arbeitete, konnte ich die beiden Teile der Stadt nie zusammen denken. Sobald ich in dem einen Teil war, vergaß ich sofort den anderen. Es war, als ob ein großes Meer die beiden Stadthälften trennte. Sie sich zusammen vorzustellen, war so unmöglich, wie sich Freddy Quinn und Mozart auf einer Schallplatte zu denken. Die Mauer war für mich nicht aus Stein, sondern aus Zeit. Wechselte ich die Seiten, trat ich in eine andere Zeit ein.“ (S. 204). Özdamar zeigt keine Momentaufnahme zum Mauerfall, sondern ein wirkliches Einfühlen in die Teilung der Stadt über einen längeren Zeitraum hinweg. Thomas Lehr beschreibt in seinem Text die umgekehrte Perspektive: Er lebt in Westberlin und flieht nach Zürich, um der Enge Westberlins zu entkommen. Damit zeigt er, dass die Abtrennung Westberlins nicht nur die Bewohner im Osten, sondern auch im Westen Berlins in eine spürbare Isolation geführt hat. „Nur war ich dessen müde geworden – vielleicht, weil sich einfach nichts ändern wollte, weder das Schrill-Schäbige vieler Stadtviertel noch das Wasserköpfige und Inzestuöse der politischen und kulturellen Szene. Auch die lästigen Randbedingungen des Eingemauertseins wollten sich nicht bessern. Es blieb bei den endlosen Reichsbahnfahrten in den Westen, dem verschlossenen Umland, den fürchterlichen DDR-Grenzern und –Zöllnern. Die klammen „Besuche“ in Ostberlin, zwei oder drei im Jahr, waren nach einigen Jahren eine Art hilfloser Routineübung geworden, und ich hatte keine Freunde oder Verwandten dort.“ (S. 212). Marcel Beyer beschreibt in seinem Text die persönliche Erfahrung einer Regionalisierung, durch persönliche Kontakte lernt er Menschen aus der Niederlausitz kennen, und es scheint ihm, als läge diese Region des DDR außerhalb ihres Hoheitsgebietes. Beyer macht damit den Anfang einer Absage an die ewige dichotomische Teilung: wir/ihr, Ost/West, schlecht/gut, eintönig/bunt, er beginnt eine Differenzierung zu zeigen.

Insgesamt zeigt sich in Deckerts Band ein facettenreiches Bild, das die Simultaneität von historischem Ereignis und nicht unterbrochenem Alltag – weder in Ost noch in West – deutlich zum Ausdruck bringt. Die Erinnerungen zerfallen in eine Erinnerung Ost und eine Erinnerung West und schreiben damit auch ein Stück Teilung fort. Der Rückblick in den Herbst 1989 zeigt, dass mit dem Mauerfall und der deutschen Vereinigung die Zeiger der Geschichte nicht auf null gestellt wurden, sondern dass die Kontexte des vorwendlichen Lebens für alle fortbestanden, ihre Wahrnehmung und ihre Erinnerung prägen. Eine wesentliche Vermittlung hat der Mauerfall durch die Medialisierung erfahren, so dass sich in der Erinnerung der Deutschen ein Bewusstsein für die historische Bedeutung dieses Datums herausgebildet hat und es zu einem wichtigen Baustein des kollektiven Gedächtnisses macht. An der getrennten persönlichen Erfahrung ändert diese Medialisierung jedoch nichts.

09. November 2009

 

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